Seit Aschermittwoch dürfen sich die über 900 Männer aus Oberammergau, die im nächsten Jahr beim Passionsspiel dabei sind, nicht mehr rasieren. Alle? Carsten Lück fährt sich über sein glatt rasiertes Kinn. Ein "bisschen ausgeschlossen" fühle er sich schon, sagt der 50-Jährige und lacht. Aber weil er den Pontius Pilatus spielt, die einzige männliche Figur ohne Bart, ist er dieses Mal vom traditionellen Bart-Erlass, der die Darsteller in die Zeit von Jesus hineinversetzen soll, ausgenommen. Eine neue Erfahrung für Lück, der schon als Bub bei der Passion dabei war.

84 Dorfbewohner raffte die Pest 1633 in Oberammergau dahin. In der dunklen Stunde gelobten die Überlebenden, von nun an alle zehn Jahre die Leidensgeschichte Jesu aufzuführen. Seitdem ist nie wieder ein Mensch in Oberammergau an der Pest gestorben. Das Gelübde hält seit fast 400 Jahren, zuletzt haben es die Bewohner im Herbst 2018 erneuert. Das Passionsspiel in dem Alpendorf im Landkreis Garmisch-Partenkirchen ist heute das berühmteste weltweit. 2020 ist die 42. Auflage. Zwischen Mai und Oktober werden 500 000 Besucher zu den Vorstellungen auf der Freilichtbühne erwartet.
1830 der aktuell rund 5000 Einwohner spielen diesmal mit. Sie müssen in Oberammergau geboren sein oder seit mindestens 20 Jahren hier leben. Hinzu kommen 500 Kinder, die im Chor mitsingen. Carsten Lück bekam 1990 seine erste Sprechrolle, den Prolog. 2000 und 2010 verkörperte er den Judas. Dass einer wie er eine Hauptrolle im Passionsspiel übernahm, war eine Sensation. Lück war der erste Protestant, der das in Oberammergau durfte. Die Zeiten haben sich gewandelt: Im nächsten Jahr verkörpert Cengiz Görür den Judas in Oberammergau, ein 19-Jähriger mit muslimischen Wurzeln.
Christian Stückl ist ein Glücksfall für Oberammergau
Möglich macht die Veränderungen Christian Stückl. Seit 1987 ist der 57 Jahre alte gelernte Holzbildhauer Spielleiter in Oberammergau. Ein Glücksfall für das Dorf, ein Glücksfall für die Passion. Auch wenn das bis heute nicht alle in seiner oberbayerischen Heimat so sehen mögen. Stückl lebt die Passion, die Begegnung mit ihm strotzt nur so von seiner Leidenschaft fürs Theater. Oberammergau profitiert davon seit über 30 Jahren. Erste Erfahrungen hatte der Gastwirtssohn als Regisseur einer Laienbühne gemacht, als er sich 1987 erstmals als Spielleiter bewarb. Und sich im Gemeinderat gerade mal so mit 9:8 Stimmen durchsetzte. Neun Jahre später rettete ihm ein knapp gewonnener Bürgerentscheid den Job. Seit 2002 ist Christian Stückl als Intendant des Münchner Volkstheaters eine feste Größe in der deutschen Theaterlandschaft, einer, auf den sie in Oberammergau stolz sein dürfen.

Der 57-Jährige hat das Passionsspiel entstaubt. Nicht nur, dass er Regelungen wie das Mitmach-Verbot für Nicht-Katholiken und verheiratete Frauen kippte. In den 1960er und 70er Jahren war das Interesse der Oberammergauer an ihrem traditionellen Spiel ebenso merklich zurückgegangen wie das der Besucher aus aller Welt. Allen voran die Weigerung der Macher, den teilweise unverhohlenen Antisemitismus aus dem Text zu tilgen, sorgte für Ärger bis hin zu Boykottaufrufen prominenter Juden wie Hollywood-Regisseur Billy Wilder oder Klassik-Ikone Leonard Bernstein. Hitler hatte das Passionsspiel wegen seiner eindeutigen Sprache und Ausrichtung 1930 als "reichswichtig" geadelt, in der Nachkriegszeit veränderte sich die Sichtweise der Inszenierungen kaum.
Der Mensch Jesus steht im Mittelpunkt
Stückl stellt den "Menschen Jesus" mit seinem Glauben und Zweifeln, mit seiner "revolutionären Botschaft" für Menschlichkeit und Nächstenliebe in den Mittelpunkt. Anspielungen zur aktuellen Politik, zu den weltweiten Flüchtlingsbewegungen oder zur drohenden Spaltung der Gesellschaft, gehören für ihn dazu, ohne dass das Passionsspiel deshalb zum Agitprop-Theater mutiert. "Wir zeigen keinen abgehobenen Messias mehr wie früher", verspricht Frederik Mayet. Der 39-Jährige, im Hauptberuf Pressesprecher sowohl der Passionsspiele als auch des Münchner Volkstheaters, verkörpert Jesus 2020 bereits zum zweiten Mal. Wenn Oberammergau-Besucher ihn auf der Straße um ein "Selfie mit Jesus" bitten, befremdet Mayet das eher. Er spiele lediglich eine Rolle, sagt er. Früher indes, so hört man im Dorf, habe es durchaus Jesus-Darsteller gegeben, die im Bühnen-Gewand segnend durch die Straßen von Oberammergau liefen.

Stückls Arbeit überzeugt längst auch Vertreter des Judentums, den Antisemitismus hat er von der Bühne verbannt. Jesus ist heute erkennbar Jude, er trägt die Thora-Rolle in den Tempel, beim Abendmahl steht die Menora, der siebenarmige Leuchter auf dem Tisch. "Schma Jisrael", ein jüdisches Glaubensbekenntnis, wird auf Hebräisch gesungen. Mit jüdischen Organisationen in den USA wie dem Jewish Comitee pflegt der 57-Jährige regelmäßigen Austausch. Im September steht zur Einstimmung auf die Proben für 2020 einmal mehr eine Reise des Ensembles nach Israel auf dem Programm – mit Station an historischen Stätten wie dem Ölberg oder dem See Genezareth, aber auch mit einem Besuch der Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem.
Gemeinde Oberammergau profitiert von der Passion
Stückls künstlerische Radikalkur, die auch vor Musik und Bühnenbild nicht halt machte, sichert der Passion die Zukunft. Über 2300 Bürger wollen während der fünfmonatigen Spielzeit von Mai bis Oktober mitmachen, egal ob in einer der 21 doppelt besetzten Hauptrollen oder als Statisten im Volk wie die 96-jährige Anni Drohmann. So großes Interesse gab es noch nie, viele Oberammergauer treten beruflich in dieser Zeit kürzer. Bei der Gemeinde, die das Passionsspiel offiziell veranstaltet, rechnet man für die 103 Vorstellungen (Premiere ist am Samstag, 16. Mai) wieder mit einer halben Million Besuchern aus dem In- und dem Ausland. Und entsprechend guten Geschäften. "Die Passion ist eine Goldgrube", sagt einer, der sich im Tourismus gut auskennt, "wir Oberammergauer tun aber auch alles dafür".
Längst ist das Theater auch in den Jahren zwischen den Passionsspielen eine gefragte Freilichtbühne. Wagner und Verdi, Shakespeare und Schiller: Stückl und seine Freunde locken auch abseits der Passion Gäste in die Ammergauer Alpen. Für den Spielleiter nicht zuletzt eine gute Gelegenheit, neue Talente für sein Laienspieler-Ensemble zu testen. Heuer steht, wie immer seit 1932 im Jahr vor der Passion, die "Pest" auf dem Spielplan, das Schauspiel, das erzählt, wie es einst zum Passionsgelöbnis in Oberammergau kam. Ein schwarzes Spektakel. Eine durchaus schaurige Geschichte - die Basis für den Weltruhm von Oberammergau.
Tipps zum TripInfo: Passionsspiele Oberammergau, Dorfstraße 3, 82487 Oberammergau. Infotelefon und Buchungshotline: (0 88 22) 83 59 330. Internet: www.passionsspiele-oberammergau. Tickets: Karten für die fünfstündigen Passionsspiel-Aufführungen vom 16. Mai bis 4. Oktober 2020 (Beginn 14.30 bzw. 13.30 Uhr; drei Stunden Pause) gibt es in verschiedenen Kategorien von 30 bis 180 Euro. Neben Einzeltickets werden Arrangements mit einer (ab 294 Euro pro Person im Doppelzimmer) oder zwei Übernachtungen (ab 394 Euro pro Person im Doppelzimmer) in verschiedenen Hotel- und Ticket-Kategorien angeboten. Pestspiel: Aufführungen der "Pest" stehen am 19. und 20. Juli sowie am 2. und 3. August 2019 auf dem Programm. Beginn ist um 20 Uhr. Tickets kosten zwischen 19 und 49 Euro. Telefonische Buchung: (0 88 22) 94 58 888. Ammergauer Alpen: Oberammergau und Umgebung haben auch außerhalb der Festspielzeit viel an Natur und Kultur zu bieten: Im Naturpark Ammergauer Alpen erstreckt sich ein Wanderwegenetz von rund 500 Kilometern Länge, das auf Berggipfel wie Laber und Kolbensattel führt, aber auch "Genusswanderwege" im Tal wie den "Wiesmahdweg" umfasst. Kulturelle Sehenswürdigkeiten sind unter anderem Schloss Linderhof und Kloster Ettal. Info: www.ammergauer-alpen.de, Telefon: (0 88 22) 92 27 40.