Seit dem 11. November läutet um 20 Uhr nach dem normalen Stundenläuten eine Glocke in der Marienkirche in Königsberg noch einmal allein für vier Minuten. Doch was hat es mit diesem besonderen Glockenläuten auf sich?
Es hat seinen Ursprung in der „Sage von der Irrglocke“, die Karl Eisentraut, der ehemalige Rektor der Schule in Königsberg und überregional bekannter Heimatforscher, vor vielen Jahren aufgeschrieben hat. Den alteingesessenen Einwohnern der Stadt ist es unter dem „Irrläuten“ bekannt.
Im Wald verirrt
In der Sage geht es um zwei junge Klosterfrauen aus einem ehemaligen Kloster in Königsberg. In der Sage wird erzählt: Einmal im Dezember, es war kurz vor Weihnachten, machten sich die zwei Frauen auf, um in den Wald zu gehen. Sie waren erst kurze Zeit im Kloster. Auf dem Spaziergang hatten sie sich viel zu erzählen, von ihren Eltern und vom bevorstehenden Weihnachtsfest. Sie waren so im Gespräch vertieft, dass sie gar nicht merkten, wie sie vom Weg abkamen und immer tiefer in den Wald gerieten.
Plötzlich konnten sie nicht mehr weiter und wussten auch nicht mehr ein und aus. Zudem brach die Dunkelheit herein, der Himmel zog sich zu und Schneeflocken fielen durch das Geäst auf den Waldboden. Immer heftiger wurde das Schneetreiben. Was sollten sie tun? Guter Rat war teuer.
„Zurück!“, sagte die eine. Kaum waren sie eine Strecke gegangen, da verliefen sich die Fußspuren, denn immer dichter fielen die Flocken. So irrten beide bald dahin, bald dorthin. Immer müder wurden die Beine und erschöpft kauerten sie nieder. Sie falteten die Hände und baten Gott und die Heiligen um Rat und Hilfe. Plötzlich hörten die beiden Klosterfrauen von Ferne Glockengeläut. Nun war alle Müdigkeit vergessen. Sie stürzten vorwärts, immer dem Glockenklang nach. So fanden sie wieder aus dem Wald und den Weg, der nach Königsberg führte. Das Glockengeläut hatte sie gerettet.
Die Sage erzählt weiter, dass die reichen Eltern der beiden Frauen für diese Rettung einen Wald bei Köslau, den Gotteskastenwald, stifteten und dass vom Erlös des Holzes aus diesem Wald jeden Abend die Glocke geläutet wurde.
Eine zweite Version
Inzwischen ist der Wald in andere Hände gekommen, geblieben ist aber seit vielen Jahren das Irrglockenläuten in Königsberg als alter Brauch. Zum ersten Mal wird jedes Mal am Martinstag, 11. November, geläutet. Das letzte Mal ertönt es an Lichtmess, 2. Februar. Geläutet wird immer um 20 Uhr die kleinste der vier Glocken im Turm der Marienkirche. Diese hängt ganz oben im Glockenstuhl und hat einen Durchmesser von 75 Zentimetern. Sie stammt aus dem Jahr 1764 und wurde von Johann Andreas Mayer aus Coburg gegossen.
In welchem Jahr die zwei Klosterfrauen durch die Glocke gerettet worden sein sollen, geht aus der Sage nicht hervor. In einer anderen Version dieser Sage wurden die beiden Klosterfrauen durch andere "Spaziergänger" gerettet, die die zwei Nonnen ins Kloster bei Königsberg zurückbrachten. Aus Dankbarkeit und zur Erinnerung für diese gute Tat habe das Kloster zwischen November und Februar das Abendläuten eingeführt, damit verirrte Menschen durch das Glockengeläute des Nachts eine Orientierung bekommen.
