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Warten auf ein Päckchen Hoffnung

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Warten auf ein Päckchen Hoffnung

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    Anton Thum ist zum Warten verdammt. Denn das Medikament, das seine Krebserkrankung aufhalten könnte, ist derzeit kaum lieferbar. Die Zeit vertreibt er sich an seinem Lieblingsplatz vor der Garage.
    Anton Thum ist zum Warten verdammt. Denn das Medikament, das seine Krebserkrankung aufhalten könnte, ist derzeit kaum lieferbar. Die Zeit vertreibt er sich an seinem Lieblingsplatz vor der Garage. Foto: Fotos: Ulrich Wagner

    Diesen Mann wirft so leicht nichts um. Anton Thum sitzt am großen Holztisch in seiner Bauernstube und gibt sich zuversichtlich – trotz seiner kritischen Situation. Er wartet auf ein lebenswichtiges Krebsmedikament. Bisher vergeblich. Normalerweise müsste er schreien vor Wut, schreien über die Pharmaindustrie und die Tücken des Gesundheitswesens.

    Thum aber fragt in bayerischer Gelassenheit: „Wos soi ich machn?“ Er lächelt und hebt die breiten Schultern. Körper und Kopf sind vom vielen Kortison aufgeschwemmt. Der 44-Jährige ist Krebspatient. Vor elf Jahren wurde bei ihm ein Plasmozytom festgestellt – eine seltene Art von Blutkrebs, die das Knochenmark befällt und meist tödlich verläuft. Der Hausarzt hat es bei einem Routinecheck entdeckt.

    Der Baggerführer aus Walchshofen, einem Stadtteil von Aichach in Schwaben, wartet. Besser gesagt: Er ist zum Warten verdammt. Denn er benötigt für seine Stammzellentherapie dringend ein Medikament. Melphalan heißt es. Es ist ein altbewährtes Mittel und unverzichtbar für die Behandlung bestimmter bösartiger Erkrankungen des Knochenmarks. Aber die Vorräte gehen zur Neige, weil die Pharmaindustrie es derzeit nicht ausreichend herstellen kann.

    Zum Warten verdammt

    Wer ein wenig im Internet stöbert, stößt auf diverse Beiträge zu dem Thema. Der „Spiegel“ hat im Sommer auf die Produktionsprobleme im Zusammenhang mit Melphalan aufmerksam gemacht. „Kein Onkologe, den ich kenne, hat das Medikament noch in nennenswerter Menge vorrätig“, sagte damals der Krebsspezialist Günther Wiedemann. „Alle sind stinksauer und entsetzt, dass so etwas passieren kann.“ Was das heißt, davor warnt die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: „Einige Patienten werden wohl früher sterben.“ Das bestätigt auch die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie.

    Dank Melphalan lässt sich die Krebserkrankung oft für lange Zeit aufhalten. Ein kleiner Teil der Behandelten kann dadurch sogar geheilt werden. Im Falle von Anton Thum hieße das: etwa fünf Jahre länger leben, vielleicht auch zehn, vielleicht noch mehr. Sicher kann das niemand sagen, weil es keine Langzeitstudien gibt.

    Vor Weihnachten hätte Thum eigentlich mit der Stammzellentherapie beginnen sollen. Doch sein Arzt riet ihm, den Eingriff ins neue Jahr zu verschieben, dann könne er Weihnachten mit seiner Frau und der zwölfjährigen Tochter feiern. Aus heutiger Sicht hätte Thum gerne auf das Fest daheim verzichtet. Denn als er sich im Januar im Augsburger Klinikum meldete, habe er zunächst keine klare Auskunft bekommen, erzählt er. Bald schon wurde dem Patienten aber klar, dass etwas anderes dahintersteckt.

    Denn statt der Stammzellentherapie wurde ihm nun eine neue Chemotherapie verordnet. Die ist, wie Thum sagt, nötig, um die nachproduzierten Krebszellen weitgehend zu vernichten oder zumindest auf einem sehr niedrigen Stand zu halten. Nur dann können die Stammzellen unter Zugabe von Melphalan eingesetzt werden. Und je länger sich die Stammzellentherapie verzögert, desto mehr Chemotherapien muss Thums Körper ertragen.

    „Das geht schon sehr an die Nieren“

    Haare hat der 44-Jährige längst nicht mehr. Nur ein Rest Bart ums Kinn ist ihm geblieben. „Das war schon ein seltsames Gefühl, als ich plötzlich blitzblanke Beine hatte“, sagt er. Und nun noch das Warten auf Melphalan. Thum versucht, trotz dieses Rückschlags nicht zu verzweifeln. Seine Frau Katja verkraftet die negativen Nachrichten weniger gut. „Das geht schon sehr an die Nieren“, sagt die 42-Jährige. Ihren Mann plagen inzwischen Schlafstörungen. Schlaftabletten hat er aber wegen der Suchtgefahr abgesetzt: „Lieber geistere ich nachts im Haus herum.“

    Zuerst hat Thum die Diagnose ignoriert. Die Werte blieben – fast ein Wunder – trotzdem stabil. Seit vergangenem Sommer hat sich das geändert. In den Knochen traten erste Mikrorisse auf. Und Thum hat Schmerzen. Aber darüber will er nicht reden. Stärke zeigen ist seine Devise – auch wegen Laura, der er möglichst lange ein heiterer Vater sein will. Er selbst habe eine eher karge Kindheit verbracht, erzählt Thum. Darum verwöhne er seine Tochter auch ein wenig. Sie soll es besser haben als er.

    Er zeigt das Haus, den großen Garten mit Riesentrampolin und ausgebautem Bauwagen. „Alles selbst saniert oder angelegt“, sagt er stolz. Thum ist handwerklich begabt. Dann führt er den Gast zu seinem Lieblingsplatz vor der Garage. Dort hat er sich einen Heizpilz installiert, damit er es auch im Winter draußen aushalten kann, ohne zu frieren. „Oft sitze ich da, mache davor ein Lagerfeuer und schaue in den Tag oder den Abend hinein.“ Inzwischen kann Thum körperlich nicht mehr viel tun. Trotzdem will er wieder arbeiten, wenn die Stammzellentherapie erfolgreich verlaufen sollte. Aber dazu fehlt bisher die Arznei. Ob sie wieder produziert wird, und wann, lässt sich derzeit nicht genau sagen.

    Die Lage ist kompliziert: Seit der Patentschutz für Melphalan abgelaufen ist, fällt der Preis. Ein Behandlungszyklus kostet inzwischen weniger als 2000 Euro, schreibt das „Ärzteblatt“. Die Folge: Für die Industrie lohnt sich die Herstellung kaum. Das Bundesgesundheitsministerium bestätigt, dass derzeit in Europa nur noch eine Firma die Arznei produziert: Aspen Pharma Trading Limited. Doch das Unternehmen hat derzeit Lieferprobleme, heißt es beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.

    Das Mittel aus dem Ausland zu holen, ist kaum möglich. Eine internationale Apotheke bietet Melphalan zwar an. 50 Milligramm würden aber rund 2600 Euro kosten. Eine einzige Ampulle wäre damit teurer als die komplette Chemotherapie, die auf knapp 21 000 Euro kommt.

    Lieferziel: zweite Jahreshälfte

    Nur: Warum kann Aspen Pharma nicht liefern? Ein Anruf am Standort München. Von dort wird die Anfrage weitergeleitet an die Zentrale in Dublin. Zwei Tage später die schriftliche Antwort: Das Unternehmen verfüge über einen „Sicherheitsbestand“, es gebe noch Trockensubstanz und Lösungsmittel zur Herstellung der Ampullen mit dem flüssigen Melphalan. Für Notfälle stünden sie bereit. Uneingeschränkt lieferbar seien die Ampullen voraussichtlich erst wieder in der zweiten Jahreshälfte.

    Professor Christoph Schmid, Leiter der Sektion Stammzelltransplantation am Augsburger Klinikum, betreut Anton Thum. Auch wenn das hart klinge, aus medizinischer Sicht sei der Patient kein Notfall, erklärt er. Ob Thum drei oder vier Zyklen Chemotherapie bekomme, sei nicht lebensentscheidend. Wann Schmid dem 44-Jährigen das Melphalan zur Verfügung stellen kann, weiß er selbst noch nicht.

    Für den Patienten ist die Situation belastend. Die Tatsache, dass er noch ein halbes Jahr oder länger Chemotherapien überstehen muss. Dass angesichts seines angeschlagenen Immunsystems jeder Infekt gefährlich ist. Dass er nicht weiß, wie es weitergeht. Dennoch ist sich der Aichacher bewusst, dass er mit diesem Problem nicht allein ist. Weil solche Lieferengpässe auch andere Schwerstkranke treffen. Und Melphalan nur eines von mehreren knappen Medikamenten ist.

    Worin aber liegt der Fehler im System? In einem medizinischen Fachbericht wird es anschaulich geschildert: Wenn etwa ein Patent für ein Medikament abläuft, könne jedes andere Unternehmen das Arzneimittel herstellen. Eigentlich ist das gut. Denn dadurch sinkt auch der Preis. Wahr ist aber auch: Manchmal fällt er so weit, dass sich die Herstellung schlicht nicht mehr rechnet. Der freie Markt versagt.

    Bekannt ist auch: In Deutschland setzen die Rabattverträge, die Krankenkassen mit Herstellern aushandeln, um Arzneimittel in großen Mengen billiger zu bekommen, die Firmen zusätzlich unter Druck. Darum werden manche Wirkstoffe weltweit nur noch in einem Werk produziert. Gibt es dort ein Problem, sind die Folgen weitreichend.

    Lauras Hochzeit erleben – das wär's

    Derartige Schwierigkeiten lassen sich Fachleuten zufolge auch nicht lösen, wenn man den Druck auf die Hersteller erhöht. Schließlich ist vor allem das Gesundheitssystem für das Problem verantwortlich. Die Probleme liegen „zwischen Sparzwängen und Profitstreben, zwischen Planung und Markt“, wird es in einem Bericht der Welt beschrieben.

    „Das muss gesetzlich besser geregelt werden“, fordern Fachleute. Eigentlich dürften solche Komplikationen gar nicht auftreten. Schließlich verlangt das Arzneimittelgesetz, „eine angemessene und kontinuierliche Bereitstellung der Arzneimittel“ sicherzustellen. Doch diese Vorschrift wird offenbar nicht so genau genommen.

    Die Suche nach dem politisch Schuldigen – sie bringt Anton Thum nicht weiter. Ihm geht es darum, möglichst schnell behandelt zu werden. Dafür will er kämpfen. „Ich werde wieder arbeiten“, prophezeit er voller Optimismus. Sein größter Wunsch wäre es, die Hochzeit seiner Tochter Laura noch zu erleben. „Sie könnt' ja schon mit 18 heiraten“, sagt er und grinst. Er will der Krankheit die Stirn bieten.

    Nach dem Gesetz dürfte es nicht zu Lieferengpässen kommen

    Gesetz: Das Arzneimittelgesetz schreibt fest, dass „pharmazeutische Unternehmer und Betreiber von Arzneimittelgroßhandlungen“ eine „angemessene und kontinuierliche Bereitstellung des Arzneimittels“ sicherstellen müssen, „damit der Bedarf von Patienten“ gedeckt ist. Kritik: Kritiker bemängeln, dass es keinerlei strafrechtliche oder ordnungsrechtliche Sanktionen gibt, wenn dieses Gesetz nicht befolgt wird. Die Linkspartei etwa wirft der Bundesregierung Untätigkeit vor. Im Gesundheitsministerium widerspricht man den Vorwürfen. Im Fall Melphalan sei dem Unternehmen nichts vorzuwerfen, heißt es. Schließlich habe es den Lieferengpass rechtzeitig kommuniziert.

    Eine Sprecherin räumt jedoch ein, dass Möglichkeiten gesucht werden müssten, Produktionsketten für dringend benötigte Arzneimittel zu überarbeiten. So sollen etwaige Ausfälle künftig vermieden werden. Rabattverträge: Auch Rabattverträge beeinflussen die Verfügbarkeit von Medikamenten. Diese dürfen Krankenkassen seit neun Jahren mit Pharmafirmen aushandeln. Das Unternehmen, das einen Wirkstoff zu den günstigsten Konditionen anbietet, bekommt einen Vertrag mit der Kasse. Diese kalkuliert, welche Menge eines Medikaments die Versicherten brauchen. Liegt die Kasse daneben, bleiben Pillen übrig – oder ein Lieferengpass entsteht. Text: JOK/AZ

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