Aus dem sogenannten Cold Case von Wiesenfeld wird nach 31 Jahren ein Fall vor Gericht: Am Landgericht Würzburg beginnt am kommenden Montag, 9. September, der Prozess gegen einen heute 47 Jahre alten Angeklagte. Es will klären, ob der Beschuldigte kurz vor Weihnachten 1993 in dem Ort bei Karlstadt im Landkreis Main-Spessart die 13-jährige Sabine B. sexuell missbraucht, getötet und in einem Gülleschacht versteckt hat.
Vor Beginn des Verfahrens gibt es viele Fragen. Ein Überblick über den aktuellen Stand zu dem ungeklärten Mordfall.
Was ist vor 31 Jahren in Wiesenfeld passiert?
Auf 44 Zeilen beschreiben Gerichtsakten die Tat, die untrennbar mit dem Namen Wiesenfeld verbunden ist: Kurz vor Weihnachten 1993 wurde die 13 Jahre alte Sabine auf dem Zwischenboden eines Pferdestalls auf einem Aussiedlerhof am Ortsrand misshandelt und zu Tode gequält. Vermutlich Stunden später wurde ihre Leiche mitten in der kalten Dezembernacht in einer Jauchegrube neben dem Stall versteckt.

Verwandte und Freunde suchten zwei Tage lang vergeblich nach dem verschwundenen Mädchen. Ihre Leiche fanden die Ermittler schließlich an dem Pferdestall, der wie ein zweites Zuhause für die 13-Jährige gewesen war: In einem Gülleschacht wurden zunächst ihre Kleider entdeckt. Der Würzburger Mordermittler Karl Erhard bestand dann auf der Öffnung eines zweiten Schachts: Darin wurde Sabines Leiche gefunden.
Wer geriet damals unter Mordverdacht?
1993 geriet zunächst ein 15-Jähriger unter Verdacht, der sich im Jahr darauf wegen Totschlags vor dem Landgericht Würzburg verantworten musste. Er wurde mangels Beweisen freigesprochen. 1999 kam er bei einem Unfall ums Leben.
Dem damaligen Urteil des Landgerichts lässt sich entnehmen, dass schon damals zwei weitere junge Männer unter Tatverdacht standen: der spätere Erbe des Hofes in Wiesenfeld sowie ein damals 17-jähriger Bekannter des Mädchens. Er ist jetzt angeklagt.
Was macht den Angeklagten verdächtig?
Über viele Jahre hinweg gab es zwar Verdachtsmomente gegen den damaligen Bekannten von Sabine. Zuletzt hatte seine Schwester den heute 47-Jährigen beschuldigt, er habe auch sie missbraucht. Erwiesen ist diese Beschuldigung nicht. Er selbst soll während einer Autofahrt seinem damaligen Lehrherrn gegenüber die Tat gestanden und dann das Geständnis als Scherz abgetan haben.

Nach dem Freispruch des zunächst Hauptverdächtigen waren keine Anstrengungen der Justiz mehr erkennbar, den Täter zu finden. Ein Mann aus Wiesenfeld soll deshalb 1997 den Bekannten von Sabine an seine Werkbank gefesselt haben, um ihn zu einer Aussage zu zwingen. Doch just in dem Moment, in dem er unter Folter mutmaßlich etwas zur Tat aussagen wollte, soll die Polizei gekommen sein und befreite den Verdächtigen.
Das Urteil von 1994 und die aktuelle Anklage sagen: Der damals 17-Jährige wurde von Zeugen etwa zur Tatzeit am Pferdestall gesehen. Er soll einen Arbeitskollegen um ein Alibi gebeten haben. Und er kannte sich am Tatort gut genug aus, um das Versteck für die Leiche zu finden.
Was belastet den Angeklagten am meisten?
Einen Durchbruch erzielte der Würzburger Oberstaatsanwalt Thorsten Seebach 2021 bei der erneuten Prüfung des ungeklärten Falles. Mithilfe moderner Analyse-Methoden konnten die Ermittler in den 1993 in einer Blutlache am Tatort und an der Unterwäsche des Mädchens gesicherten Spuren genetisches Material finden, das vom Verdächtigen stammt.
Der Angeklagte bestreitet einen Sexualkontakt mit dem minderjährigen Mädchen. Ein Sexualkontakt selbst wäre nach über 30 Jahren verjährt, nicht aber ein Mord zur Vertuschung einer Sexualstraftat.

Ist der Angeklagte heute der einzige Verdächtige im Mordfall Sabine B.?
Die Art der Misshandlung des Mädchens wies laut einem Gutachter auf einen erwachsenen Täter hin. Bei der sorgfältigen Prüfung aller Fakten wollte das Oberlandesgericht Bamberg (OLG) 2023 nicht ausschließen, dass eine zweite Person an der Beseitigung der Leiche beteiligt war. In einer 30-seitigen Beurteilung des OLG gibt es be- und entlastende Fakten gegen den damals bereits beschuldigten Hoferben.
Dem Landgericht Würzburg war im Jahr 2022 die Beweisdecke gegen den Hofbesitzer zu dünn gewesen. Die Ermittlungen gegen ihn wurden eingestellt, kurz darauf starb er eines natürlichen Todes. Wenig später brannte in Wiesenfeld die Scheune, in der die Tat geschehen war, nieder.

Das OLG ließ die Möglichkeit zweier Komplizen in seiner umfassenden Beweiswürdigung, die erst nach 19 Monaten vorlag, ausdrücklich offen. Das bringt die Richter am Landgericht, die nun über den Fall urteilen müssen, ins Dilemma: Ein Beweis, wer den Mord beging, wird damit schwierig.
Warum dauerte es von Anklage bis Prozessbeginn fast zwei Jahre?
Die Jugendkammer des Würzburger Landgerichts um ihren Vorsitzenden Michael Schaller hatte 2022 die Anklage der Staatsanwaltschaft geprüft - und die Beweislage für zu dünn befunden. Sie weigerte sich, einen Prozess anzusetzen, in dem von Beginn an eine Verurteilung aus ihrer Sicht unwahrscheinlich ist.

Die Staatsanwaltschaft bestand auf einen Prozess und rief das Oberlandesgericht Bamberg als Schiedsrichter an, um den Fall zu prüfen. Diese Prüfung dauerte 19 Monate, ehe das OLG entschied: Das Landgericht muss in einem Prozess versuchen, den Fall zu klären.
Wie reagieren die Menschen in Wiesenfeld?
Die Menschen in Wiesenfelder waren bestürzt, dass nach dem Freispruch von 1994 zunächst keine neuen Anstrengungen unternommen wurden, den Fall zu klären. Sie beklagten sich beim damaligen Innenminister Günter Beckstein (CSU) über aus ihrer Sicht halbherzige Ermittlungen.
Einzelne Wiesenfelder versuchten auf eigene Faust, den Fall zu lösen und den heute Angeklagten zu einem Geständnis zu bringen. Einer von ihnen griff dabei zu so fragwürdigen Methoden, dass er selbst dreimal vor Gericht kam.
Was sagt Sabines Familie?
Die Familie des getöteten Mädchens verliert öffentlich kein Wort über die quälende Ungewissheit: Seit 30 Jahren warten die Angehörigen der 13-Jährigen aus Wiesenfeld schweigend auf eine Aufklärung und Gewissheit - bislang vergeblich.
Sie sind jetzt Nebenkläger. Auch ihr Anwalt Jan Paulsen äußert sich nicht und gibt auf Nachfrage keine Stellungnahme ab.

Wann ist mit einer Entscheidung zu rechnen?
Das Gericht Würzburg steht allein aus den zeitlichen Gründen vor einer ungewöhnlichen Aufgabe: Erinnerungen sind verblasst, manche Zeugen sind inzwischen verstorben, sodass man auf die Erinnerungen von Vernehmern angewiesen ist.
Der neue Prozess im Mordfall Sabine beginnt am 9. September. Die Beweisaufnahme ist nach Auskunft von Gerichtssprecher Michael Schaller auf 60 Verhandlungstage angesetzt. Eine Entscheidung könnte im Sommer 2025 fallen.
Hinweis der Redaktion: In der Vergangenheit hat unsere Redaktion bei der Berichterstattung zum Mordfall Wiesenfeld den vollen Namen des Opfers verwendet. Auch die Polizei hatte den vollen Namen zur Fahndung benutzt. Auf Bitten der Angehörigen kürzen wir den Nachnamen künftig in der Berichterstattung über den Mordprozess ab.