Für Schmunzeln und Gesprächsstoff sorgte 1955 in der Weihnachtszeit eine Geschichte, die der damalige Redakteur Hans Nestmeier (gestorben 1969) in der "Lohrer Zeitung" niederschrieb. Sie sei etwa 30 Jahre her, notierte der Kollege, was uns ziemlich genau in die Zeit vor etwa 100 Jahren zurückführt. Es geht um einen besonderen Christbaum.
Christbaumdiebe gab und gibt es auch heute noch, natürlich nicht nur in Lohr, sondern im ganzen Spessart. Früher warnten die Forstämter um die Weihnachtszeit herum immer wieder: Christbaum-Diebstahl sei kein Kavaliersdelikt, sondern Waldfrevel und werde streng bestraft. Das Landratsamt appellierte sogar an das religiöse Gewissen: „Auf einem gestohlenen Christbaum liegt kein Segen!“
Um Christbäume ging es auch beim Gespräch zweier alter Lohrer kurz vor Weihnachten 1955 in der sogenannten "Anlage", wo sie die zum Verkauf aufgestellten Nadelbäume einer kritischen Musterung unterzogen. Dabei fiel dem einen ein Erlebnis ein, das ihm einst den Blutdruck in die Höhe schraubte. Jetzt, nach so langen Jahren, hatte der Hannes seine spitzbübische Freude daran, davon zu erzählen. Hans Nestmeier berichtet:
Eine gewisse Art von Jagdleidenschaft
Der Hannes war nicht geizig. Er hätte es sich auch leisten können, die paar Pfennige, die so ein Bäumchen kostete, bar auf den Tisch zu legen. Vielleicht lag ihm so eine Art Jagdleidenschaft im Blut – auf jeden Fall wollte er einen Christbaum ganz nach seinem Geschmack und aus dem Wald seiner Heimat. Als eifriger Spaziergänger und Naturfreund wusste Hannes im Lohrer Stadtwald Bescheid und kannte die Plätze, wo der liebe Gott die schönsten Bäume in herrlicher Auswahl "wachs hat lass".
So fiel es ihm nicht schwer, jetzt den geeigneten Anwärter zu finden, ein prächtiges, ebenmäßig gewachsenes Bäumchen. Er markierte es an einen Ast unauffällig mit einem roten Schleifchen und ging zufrieden nach Hause.
Nicht nur wegen des kühlen Dezember-Wetters hatte sich der Hannes seinen weiten Mantel, das sogenannte ,Raod' umgetan, als er am nächsten Tag auszog, um seinen Baum zu holen. Unter dem Überwurf jenes prächtigen Stückes damaliger Herrenmode war nämlich nicht nur das kleine Handbeil unauffällig unterzubringen, es war darunter auch genügend Unterschlupf für ein Bäumchen, wenn es schön zusammengebunden war.

Aber wie das manchmal so geht, wenn das Unglück seinen Willen hat, plötzlich klang ihm die vertraute Stimme des Forstwarts in der Waldeinsamkeit entgegen: „Gute Morge, Hannes – no, wu naus?“ Der Hannes fühlte sich zwar etwas schuldbewusst, aber er machte doch sofort gute Miene. Man sprach eine Weile übers Wetter, bevor der Forstwart noch etwas Besonderes zu berichten wusste: „Also do haot doch so en Kaarle sich en Christbaam rausg'sücht un mit ere roate Schloppe gezächlt. Dar würd sich aober brönne; dar hölt mer dr Baam niet. Do garantier ich dr defür.“
Da wurde dem Hannes doch ein bisschen in den Knien weich. Mit größter innerer Beherrschung meinte er nickend: „Es git doch wahrhaoftig groaße Daaochdiewe!“ Noch auf dem Heimweg „simelierte“ der Hannes, wie er der Wachsamkeit des Försters entgehen könne.
In aller Herrgottsfrühe zum Schanzkopf
Früher als sonst machte er sich am nächsten Tag auf den Weg in Richtung Schanzkopf. An der Valentinuskapelle verschnaufte er kurz, belästigte den Heiligen aber mit seiner „Einkaufs-Sorge“ nicht. Bald ging es weiter. Schon kam das auserwählte Bäumchen mit der roten Schleife in Sicht. Einige Beilhiebe genügten, schnell waren die Äste hinaufgebunden und das kleine Handbeil sicher am Hosenträger verstaut. Die weiten Falten des „Raod“ breiteten ihre schützenden Fittiche über den Baum. Frohgemut eilte Hannes der Stadt zu.
Immer wieder überzeugte er sich, dass keine Tannennadeln unter dem „Raod“ hervorspitzten. Dass diese Sicherungsmaßnahme kein Luxus war, zeigte sich, noch ehe der Hannes wieder das Revier des heiligen Valentin erreicht hatte. Schon von weitem erkannte er an der Kleidung, am Gang und der Ausrüstung den Forstwart. Sie waren sonst im Alltag und am Stammtisch gute „Kollegen“, aber in diesem Augenblick hätte er den Michel doch lieber dort gewusst, wo der Pfeffer wächst.
In der Not dem heiligen Valentin ein Gelübde gemacht
Noch fester legte er seine Hand um das Bäumchen unter dem „Raod“, beruhigte mit einem tiefen Atemzug sein schlechtes Gewissen und war darauf bedacht, den Förster nicht gar zu freundlich zu begrüßen, um keinen Verdacht zu erwecken. Das Bäumchen schien unter dem „Raod“ zu brennen und das Handbeil juckte an der Hosennaht. Dem heiligen Valentin machte er aus der Ferne ein Gelübde: „Ze Läwesdaoch hol ich kenn Christbaam mehr uff die Tour.“

Wie ein Mühlstein fiel es ihm vom Herzen, dass diesmal keine lange Unterhaltung zustande kam, denn der Michel hatte es eilig und sagte nur: „Ich mueß do douwe amaol naoch dam Bömmle guck.“ Er konnte ja nicht ahnen, was für eine böse Überraschung ihm bevorstand. Der Baum war weg! “Den Dunnerkeil söll die raüdige Buewe holl!“ Der Michel hatte sich seit Tagen auf diesen todsicheren Fang so sehr festgelegt, dass ihm nun alle Freude verdorben war.
Die Weihnachtstage kamen. Mit Liebe und Sorgfalt schmückte der Hannes seinen Christbaum. Noch nie hatte er eine solche Freude daran wie in diesem Jahr, denn das Bäumchen war ja ein Sorgenkind und es hätte nicht viel gefehlt und alles wäre schief gegangen.
Beim Dämmerschoppen kam dem Förster ein Verdacht
Am zweiten Feiertag trafen der Hannes und der Michel zum Dämmerschoppen im Wirtshaus zusammen. „No Hannes, waos haot dr es Christkindle gebroacht?“, meinte der Michel. Der Hannes erwiderte: „No ja, halt es alte Spielzaüch; mir is halt immer die Hauptsaoch e schüens Bemmle un dao hao ich haüer wirklich e feins dergattert.“
Der Michel erinnerte sich da an die Begegnungen im Wald. Der Spitzbub, von dem er neulich erzählt hatte, habe tatsächlich das Bäumchen geholt, berichtete er dem Hannes. „Ich hao die ganze Zeit spekuliert, aower dar Kale muss direkt in der Naocht douwe gewäse sei, sunst hätt ich’n dergraotsch müeß.“ Worauf der Hannes nur meinte: „Ich hao dersch jao scho daomaols gsaocht, es gitt arch groaße Daochdiewe!“ Dass der Hannes dabei verschmitzt in den Bart grinste, fiel dem Michel nicht auf, das danach vom Hannes spendierte Schnäpsle nahm er aber gerne an.