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Würzburg: Wohnen in Würzburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Wie eine Professorentochter im Haus voller Ratten leben musste

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Wohnen in Würzburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Wie eine Professorentochter im Haus voller Ratten leben musste

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    Marcella Boveri mit ihrer Tochter Margret an Weihnachten 1904 in der eleganten Wohnung in der Äußeren Pleich.
    Marcella Boveri mit ihrer Tochter Margret an Weihnachten 1904 in der eleganten Wohnung in der Äußeren Pleich. Foto: Staatsbibliothek zu Berlin

    Die 22-jährige Margret Boveri war Besseres gewöhnt, doch es ließ sich nicht ändern: 1922 musste die Tochter des sieben Jahre zuvor gestorbenen Würzburger Zoologieprofessors Theodor Boveri mit ihrer Mutter von der eleganten Bismarckstraße in die Innere Pleich umziehen. Die Innere Pleich – das war jenes Viertel, in dem einfache Menschen wohnten, darunter viele Handwerker, Angestellte im Schlachthof und Arme.

    Der Inhaber einer Darmwaschanstalt, der im Ersten Weltkrieg reich geworden war, hatte das Haus mit der Boveri'schen Acht-Zimmer-Wohnung in der Bismarckstraße gekauft und der Familie den Umzug in seine eigene bescheidene Behausung direkt über der Darmwäscherei in der Bohnesmühlgasse 1 angeboten. Er wollte seinen neuen Wohlstand in den ehemaligen Räumen der Boveris zeigen. Angesichts der Wohnungsnot in Würzburg blieb Mutter und Tochter nichts übrig, als das Angebot anzunehmen.

    Feuchte, schimmelige und stinkende Wohnung in Würzburg

    "Die Küche war ein Loch", schrieb Margret Boveri später. "Vom improvisierten Badezimmerchen ging der Blick auf heruntergewirtschaftete fast fensterlose alte Häuser." Die Wohnung war Tag und Nacht vom Gestank der Darmwäscherei erfüllt und von den Dünsten feucht und schimmelig. Das Schlimmste aber ließ sich vor der Wohnungstür beobachten: "Auf unserer Treppe liefen die Ratten auf und ab."

    Margret hatte eine behütete Zeit in der Bismarckstraße mit ihrem Vater und dessen amerikanischer Frau Marcella erlebt – gefühlt Meilen von der nahen Inneren Pleich entfernt. Ein Foto, das Margret mit ihrer Mutter an Weihnachten 1904 zeigt, gibt einen Eindruck von den schweren teuren Möbeln, die in der Äußeren Pleich zum guten Ton gehörten.

    Die Kaminecke in seiner Würzburger Wohnung, fotografiert von Wilhelm Conrad Röntgen. Rechts hängt ein Gobelin mit einer Naturdarstellung, die Möbel sind teure Schreinerarbeiten.
    Die Kaminecke in seiner Würzburger Wohnung, fotografiert von Wilhelm Conrad Röntgen. Rechts hängt ein Gobelin mit einer Naturdarstellung, die Möbel sind teure Schreinerarbeiten. Foto: Röntgen-Museum, Remscheid-Lennep

    Tatsächlich war der Abstand zwischen den hier lebenden meist wohlhabenden Menschen und den ärmeren in der Inneren Pleich so groß, dass Theodor Boveri lieber einen Hauslehrer beschäftigte, als seine Tochter in die Pleicherschule zu schicken, wo sie mit Kindern aus dem verrufenen Viertel in Kontakt gekommen wäre. 1922 existierte diese Gefahr nicht mehr. Margret, später eine der bekanntesten Journalistinnen Deutschlands, studierte inzwischen an der Würzburger Universität, wo die Kinder aus "besseren" Familien damals noch weitgehend unter sich blieben.

    Blick in Anna Röntgens Zimmer in der Würzburger Wohnung des Paares. Die Aufnahme stammt vom Ehemann Wilhelm Conrad Röntgen.
    Blick in Anna Röntgens Zimmer in der Würzburger Wohnung des Paares. Die Aufnahme stammt vom Ehemann Wilhelm Conrad Röntgen. Foto: Röntgen-Museum, Remscheid-Lennep

    Dass auch andere Professoren einen gehobenen Wohnstil pflegten, zeigen Fotos, die Wilhelm Conrad Röntgen, ein begeisterter Hobbyfotograf, vor seinem Weggang aus Würzburg im Jahr 1900 aufnahm. Er lebte in der Direktorenwohnung im Physikalischen Institut am heutigen Röntgenring 8; zur Straßenseite hin standen dem Forscher, seiner Frau Anna und der Adoptivtochter Josephine Berta fünf Zimmer zur Verfügung, zur Südseite vier weitere und die Küche.

    Nicht jedes Zimmer hatte damals ein Fenster

    Ganz anders stellte sich dagegen das Leben der Mehrzahl der rund 75.000 Würzburger und Würzburgerinnen dar. Der 1887 geborene Berufssoldat Adelbert Gümbel wohnte beispielsweise mit seiner Frau Maria und dem kleinen Sohn Wilhelm im zweiten Stock des Hauses Grombühlstraße 27. Die Wohnung bestand aus einem schlauchartigen, nur 1,70 Meter breiten Wohnzimmer, dazu Schlafzimmer und Küche.

    Adelbert und Maria Gümbel mit ihrem Sohn Wilhelm. Die Familie steht für die Mehrheit der Würzburger, die in bescheidenen Verhältnissen lebten.
    Adelbert und Maria Gümbel mit ihrem Sohn Wilhelm. Die Familie steht für die Mehrheit der Würzburger, die in bescheidenen Verhältnissen lebten. Foto: Staatsarchiv Würzburg

    "Jedes der Zimmer einschließlich Küche hat ein Fenster", notierte Gümbel in seinen Lebenserinnerungen, und unterstrich damit eine Tatsache, die in einfachen Wohnungen jener Zeit nicht selbstverständlich war. Der Küchenofen taugte laut Gümbel nicht viel: "Ausbesserungen, die ich persönlich vornahm, halfen nichts. Der Hausherr, ein dicker reicher Bäckermeister ohne Kinder, scheute jede Ausgabe."

    Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen. "Meine Löhnung betrug seinerzeit 1,90 Mark pro Tag, dazu noch 65 Pfennig Beköstigungsgeld, in Summa 2,55 Mark", schrieb der Berufssoldat. "Diese Summe konnte ich aber nicht vollkommen für den Haushalt verwenden, denn die Miete betrug monatlich 20 Mark und ich erhielt seitens der Militärverwaltung nur 14 Mark Entschädigung. Pro Tag blieben mir also 2,35 Mark." Im August 1914, als der Erste Weltkrieg begann, zog Gümbel mit den Truppen nach Frankreich; Frau und kleiner Sohn blieben allein zurück.

    Während des Ersten Weltkriegs kam der Wohnungsbau in Würzburg praktisch zum Erliegen

    Um die Wohnsituation von Menschen mit geringem Einkommen zu verbessern, war in Würzburg schon 1908 die "Baugenossenschaft von Angehörigen der Königlich Bayerischen Verkehrsanstalten" entstanden, die vor allem in Gneisenaustraße und Heimgartenweg Häuser errichtete. Hauptziel war es, den von Kohlestaub und Kohlenmonoxid geplagten Eisenbahnern "Heim und Garten" zu bieten.

    Die Heimgartensiedlung um Heimgartenweg und Gneisenaustraße entstand als erstes Projekt einer Wohnungsbaugenossenschaft schon vor dem Ersten Weltkrieg.
    Die Heimgartensiedlung um Heimgartenweg und Gneisenaustraße entstand als erstes Projekt einer Wohnungsbaugenossenschaft schon vor dem Ersten Weltkrieg. Foto: Roland Flade

    Während des Ersten Weltkriegs kam der Wohnungsbau dann praktisch zum Erliegen, obwohl Würzburg einen ständigen Zuzug von neuen Einwohnern erlebte, und als die Soldaten im Herbst 1918 zurückkehrten, herrschte bereits große Wohnungsnot, von der Stadtverwaltung als "furchtbare Geißel" bezeichnet. Um zumindest etwas Abhilfe zu schaffen, entstanden acht Militärbaracken und drei Zweifamilienhäuser aus Heeresholz auf dem Sanderrasen.

    Alle irgendwie geeigneten Räume wurden zudem in Wohnungen verwandelt, so 141 in den Mannschaftssälen der alten Infanteriekaserne am Main, 36 im ehemaligen Gardistenbau an der Kapuzinerstraße 36 und sieben in verschiedenen Schulhäusern. Weitere Notwohnungen boten Residenz, Bischofspalais, Reuererkloster und einige Domherrenhöfe.

    Teilung von großen Wohnungen wurde erzwungen

    1920/21 wuchs am Oberen Burgweg die "Lehrkolonie Marienberg" empor, eine Kleinsiedlung aus 15 Ein- und Zweifamilienhäuschen. Die Reichseisenbahn errichtete sechs Neubauten in der Gneisenau-, Prym- und Rimparer Straße für die Unterbringung ihrer Beschäftigten samt deren Familien. Ebenso beteiligten sich weitere neu gegründete Genossenschaften an der Minderung der Not. Ab 1921 entstand mit der Kriegersiedlung Galgenberg zwischen Rottendorfer Straße und der Straße Am Galgenberg eine Kolonie für Kleinsiedler, vor allem Kriegsveteranen.

    Insgesamt errichteten Genossenschaften, Privatleute sowie Staat und Stadt in den Jahren nach dem Waffenstilstand jährlich etwa 320 Wohnungen – so viele wie vor dem Krieg. Doch selbst dies war laut Stadtverwaltung "vollkommend ungenügend, um eine einigermaßen fühlbare Erleichterung der Wohnungsnot zu bringen". So griff man zu einem konfliktträchtigen Mittel: der erzwungenen Teilung von großen Wohnungen und der Einweisung von Suchenden, wenn nötig unter Einsatz der Polizei. Dies brachte "in den allermeisten Fällen recht unerquickliche Verhältnisse sowohl für den Mieter wie den Zwangsmieter mit sich", gab die Stadtverwaltung zu.

    Die Tochter wandte sich nach Berlin, während die Mutter in die USA zurückkehrte

    Von dieser durch die Not erzwungenen Vorgehensweise waren auch Mutter und Tochter Boveri vor dem Umzug in die Innere Pleich betroffen, wie Margret Boveri in ihren Erinnerungen schreibt: "Unter der Bewirtschaftung der Wohnungen stand einer einzelnen Person nur ein Zimmer, einer Familie außerdem noch ein Wohnzimmer zu. Wir mussten zuerst vier, dann immer noch drei unserer Zimmer abgeben."

    Margret Boveri in den 20er-Jahren.
    Margret Boveri in den 20er-Jahren. Foto: Staatsbibliothek zu Berlin

    Nach dem anschließenden Zwischenspiel in der Inneren Pleich gingen Margret und Marcella Boveri getrennte Wege. Die Tochter wandte sich nach Berlin, während die Mutter in die USA zurückkehrte, wo sie als Wissenschaftlerin arbeitete. Adelbert Gümbel errichtete mit Hilfe seiner Stiefbrüder nach der Rückkehr aus dem Krieg ein kleines Haus im Gerbrunner Weg für seine Familie, die nach der Geburt weiterer Kinder schließlich sechs Personen umfasste.

    Der Artikel basiert auf dem kürzlich erschienenen Buch "Wohnen in Würzburg. Neunzig Jahre Stadtbau" und ist der erste einer vierteiligen Serie. Nächste Folge: In der eleganten Theresienstraße wächst in den 20er Jahren Gertrud Hinterberger auf, die von den primitiven Plumpsklos im benachbarten Kroatendorf fasziniert ist.

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