Platz statt Plätzchen. Bier statt Punsch. Kumpels statt Familie. Tobias Lindner sitzt in seinem Fußball-Keller vor der kunterbunten Schalsammlung und schüttelt ungläubig den Kopf. Vor ein paar Jahren hat er über die Feiertage Christbaum und Geschenke einfach stehen lassen und ist mit dem Bus nach England gefahren. Zum Boxing Day – dem legendären Weihnachts-Spieltag auf der Insel. FC Liverpool gegen Leicester City, am 26. Dezember 2015. Seitdem hat sich einiges verändert im Leben des Mannes aus Ostheim vor der Rhön. Heute würde er nicht mehr fahren, sagt der 35-Jährige. Und erinnert sich trotzdem mit leuchtenden Augen "und mit Stolz".
"Das ist ein Erlebnis, das mir keiner nehmen kann. Ein Erlebnis, mit dem man sich von anderen Hoppern abhebt." Hoppern? Lindner meint Groundhopper und ist einer von ihnen. Er sammelt Stadien, Ligen, Länder wie andere Modellautos, Teddybären oder CDs. "Mit Fans, die in zehn Jahren einmal in die Allianz Arena gehen, kann ich nichts anfangen."

Solche waren das auch nicht, zu denen Lindner und sein Kumpel, ein Mönchengladbach-Fan, irgendwo im Rheinland in den Bus gestiegen sind. Lauter Fußballverrückte. Und alle mit nur einem Ziel: Fußball gucken, wenn der normale deutsche Fan Pause hat – an Weihnachten. Am Boxing Day. Der so heißt, weil es im Commonwealth Usus ist, dass am 26. Dezember Angestellte ein Geschenk ihres Arbeitgebers "unboxen", also auspacken.
Lindner und Co. packten ihr eigenes Geschenk an einem besonderen Ort aus: im Anfield, dem legendären Stadion auf der sanften Liverpooler Anhöhe. Wo über 50.000 Fans reinpassen und auch da sind. Darunter, in Block 129, Reihe 29, auf Sitzschale 156, Tobias Lindner aus Ostheim, wo er aufgewachsen ist. Der ums Eck beim TSV Stetten Fußball selbst gekickt hat und dort immer noch kegelt.
Heiligtümer: Ein Ordner mit hunderten Eintrittskarten und die alte Bayern-Kutte
Der Industriemechaniker lebt mit seiner Freundin Ann-Kristin, die selbst ganz gern mal zur Frankfurter Eintracht fährt, und der gemeinsamen, einjährigen Tochter Emma in einem Haus in seinem Heimatort. Seine zweite Heimat ist der Bayern-Fanclub "Rhön Bazis" Ostheim mit über 300 Mitgliedern. Die Kutte, die abgeranzte Jeansweste mit den vielen Aufnähern, trägt Lindner so gut wie nicht mehr. "Aber ich halte sie in Ehren."

Wie den dicken Ordner mit den hunderten Eintrittskarten. Zeuge von Besuchen von Bayern-Spielen, regionalen Fußball-Ausflügen zu Partien des FC 05 Schweinfurt oder des TSV Aubstadt ("aber auch mal nach Bad Kissingen oder Strahlungen") und beeindruckenden Auswärtsfahrten nach Schottland, Kroatien oder Brasilien.
Lindners Entwicklung vom Normalo-Fan zum Groundhopper war eine schleichende. Irgendwann wurden Besuche in München Routine. Es folgten erste Auswärtstrips nach Mönchengladbach, Hamburg oder Bremen. Und irgendwann, mit Anfang 20, der Gedankenblitz: "Warum nicht mal nach Zagreb mit dem Bus?"

2011 stieg Lindner beim Fanclub Deutsche Nationalmannschaft ein – also ab auf Länderspiele. "Ich sammle gerne, weswegen ich auch genau weiß, wann ich wo war", sagt er. 2014 plötzlich in Brasilien bei der WM. "Verrückt, da fährst kreuz und quer mit dem Zug rum zu den Spielen, gibst 6000 Euro aus." Ein bisschen preiswerter, aber nicht weniger "crazy": 2018 die WM in Russland.
Ein strammes Dezember-Programm: in Gladbach, Zagreb und Liverpool
Und eben der Hupfer auf die Insel 2015. Am Heiligen Abend sitzt Tobias Lindner, damals noch solo, brav bei den Eltern in Ostheim. Nur eines ist anders als immer: Am nächsten Tag geht's in aller Herrgottsfrüh nach England. "Okay, meine Eltern waren nicht so begeistert, aber heute fragt keiner mehr danach. Schwupps: War ich eben beim Boxing Day." Heute, mit Familie, "kann ich das nicht mehr bringen. Aber der grüne Haken hinter diesem Traum ist gesetzt".

Das Finale eines strammen Dezembers damals übrigens: auswärts in Gladbach, in Zagreb und eben in Liverpool. Die Beatles-Stadt erreicht die Busbesatzung am Abend des ersten Weihnachtsfeiertags. "Wir sind durch den Euro-Tunnel gefahren. Eine Fahrt mit viel Schlaf und Bier." In Liverpool geht's prompt in die Pubs. "Die englischen Fans haben uns großartig aufgenommen." Beim üblichen Programm "Fußball – Bratwurst – Bier" muss Lindner kleine Abstriche machen: Britische Wurstwaren gehen kaum als Leckerbissen durch.
Vor allem aber wundert sich der Ostheimer: In England scheinen sie von üppiger Weihnachtsdeko wenig zu halten. Kaum ein beleuchteter Baum, kaum Sternengirlanden. Stören tut's ihn nicht: "Ich bin zwar Christ, aber mache mir nicht so viel aus Weihnachten mit dem ganzen Konsum-Terror." Da ist er eh wegen des Fußballs: Liverpool gewinnt 1:0, Torschütze ist Roberto Firmino, der kurz zuvor aus Hoffenheim gekommene Brasilianer.
Englische Fans wollen im Pub anstoßen mit den schrulligen Deutschen
Die Stimmung begeistert Lindner. "Irre, wenn Tausende 'You'll never walk alone' singen. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich den Trip auf zwei, drei Spiele ausgedehnt. Aber ich habe mich der Gruppe gefügt."
Eine Gruppe, die ihre abendliche Pub-Tour beinahe nahtlos vor dem Spiel fortsetzt. Lindner trifft Fans "wie es sie nur in England gibt". Wie die ältere Dame mit Brille, auf deren Schal dutzende Pins von Klubs und Stars stecken. Und alle wollen anstoßen mit den schrulligen Deutschen, die statt daheim Weihnachten zu feiern in England ins Stadion gehen. "Ich habe Tage gebraucht, bis ich wieder fit war. Die Silvester-Party hab' ich damals sausen lassen", erinnert sich der 35-Jährige.

Nicht indes die wilde Fahrerei durch Europa. In 24 Länder hat der Fußball den Ostheimer geführt, sauber protokolliert in der Groundhopper-App "futbology". Die "verführt einen", gesteht Lindner. "Da sieht man, was die anderen so machen. Wow, ein Bekannter ist gerade in Zimbabwe, verrückt. Neulich bin ich nach Luxemburg gefahren, zum Länderspiel gegen Bosnien-Herzegowina. Auch nicht viel vernünftiger." Trotzdem betont er: "Mein Leben richte ich nicht nach dem Fußball aus." Ohnehin hat jeder Hopper so seine eigene Philosophie: Einige machen pro Land erst einmal eine Liga komplett, Lindner giert nach Länder-Punkten.
Länder, die auf Tobias Lindners Wunschzettel stehen
Dänemark, Slowenien, Rumänien, Litauen stehen auf seinem Wunschzettel. "Ich muss allerdings aufs Geld schauen. Es sind schon arg viele Tausender in die Flur gegangen fürs Hoppen." Litauen könnte dennoch Realität werden. "Ich mache mit Freundin und Kind nächstes Jahr eine Baltikum-Kreuzfahrt. Wer weiß, vielleicht lässt sich da ja ein Spiel kombinieren."
Sagt's und schüttelt noch einmal den Kopf, schaut auf den Liverpool-Schal von 2015. Und das Ticket für 47 Pfund. Wehmut kommt auf. Dann steht er auf, geht die Treppe hoch ins Wohnzimmer, sieht Freundin und Kind – und freut sich auf Weihnachten zu Hause.