Toupierte Haare, Schminke, Nagellack, Strass-Steine am Shirt: das sind Kissin' Dynamite. Die fünf Schwaben aus dem Landkreis Reutlingen spielen seit 2007 klassischen, melodiösen Heavy Metal, werden wegen ihres schillernden Bühnen-Stylings aber gerne mal dem Glamrock zugeordnet. Insbesondere Sänger Johannes "Hannes" Braun, in einer langjährigen Beziehung mit der Metal-Sängerin Anna Brunner, sticht mit seinem femininen Auftreten in der Welt der Harte-Männer-Klischees hervor und bedient damit auf den ersten Blick die aktuelle Gender-Debatte um nonbinäre Geschlechtsidentitäten.
Queer, nicht-queer, Mann, Frau – im Interview spricht der 30-Jährige, der auch als Produzent und Songwriter unter anderem für die Seemannslieder-Band Santiano tätig ist, über Genderfluid, Toleranz und eine bessere Welt. Am zweiten Weihnachtsfeiertag spielen Kissin' Dynamite in der Music Hall Geiselwind (19.30 Uhr). "Das hat bei uns Tradition, am 26. Dezember aufzutreten", so Braun. "Weihnachten ist ein Fest, an dem Menschen zusammenkommen. Was gibt's geileres als ein Rockkonzert?"
"Abtauchen in eine Parallelwelt, Probleme vergessen. Dafür steht Kissin' Dynamite."
Johannes Braun
Mal ganz ehrlich: Wie lange stehen Sie morgens im Bad?
Johannes Braun: Da gibt es einen großen Unterschied zwischen Konzert-Tag und Alltag. Aber selbst vor einer Show ist das gar nicht so lang. Früher haben wir uns die Haare extrem nach oben gestellt und uns stärker geschminkt. Aber selbst da war's nicht länger als eine halbe Stunde. Wir verkünsteln uns nicht großartig. Es ist ohnehin nur Show. Grundsätzlich sind wir große Fans von Bands wie Mötley Crüe, Bon Jovi oder Guns n' Roses. Von dieser Hair-Metal-Zeit in den Achtzigern. Die inspiriert auch die Optik. Exzentrische Looks machen uns aus. Aber wir karikieren diese Zeit nicht, wir nehmen sie ernst.
Sie sprechen den Hair Metal an. Ab den Neunzigern war dieser bunte, flippige Lifestyle weg vom Fenster. Es entstanden immer mehr Subgenres des Metals, entwickelten sich durch Ausloten von Extremen. Wollen Sie das Rad zurückdrehen, hin zu einem unbeschwerteren Umgang mit Rockmusik?
Braun: Das mit den Extremen ist richtig. Nur: Gefühlt ist inzwischen alles dagewesen. Vielleicht ist gerade jetzt, in düsteren Zeiten, wieder der Bedarf für genau diese Musik da. Die ersten sieben, acht Jahre lang haben wir uns schwergetan, eine Fangemeinde zu erspielen. Dann haben wir das allgemeine Comeback des Hair Metals gefühlt. Abtauchen in eine Parallelwelt, Probleme vergessen. Dafür steht Kissin' Dynamite. Wir bringen Party und Spaß auf die Bühne. Wir sind keine Band mit politischen Statements.
Unterschwellig vielleicht doch? Kissin' Dynamite lassen klassische, binäre Identitäten verschwinden? Männlich, weiblich, divers, inter, trans – eine Band für alle. Ein dominantes gesellschaftspolitisches Thema.
Braun: Wir kamen in der ganzen Welt herum und sind überall mit offenen Armen empfangen worden, ob in Amerika, Asien oder Osteuropa. Wir sind eine Band, die für jeden da ist, ohne jede Ausgrenzung. Von der Bühne aus sehe ich beim Konzert wirklich alles. Okay, die ersten zehn Reihen sind die Teeny-Mädels. Danach kommt alles, wir sprechen tatsächlich ein Familienpublikum an.

Auch gezielt ein queeres Publikum?
Braun: Wir brauchen das gar nicht explizit tun, auch keine entsprechenden Songs zu queeren Themen schreiben. Es ist für uns selbstverständlich, auch ein queeres Publikum anzusprechen.
Diversität ist ja gerade im radiotauglichen Mainstream-Metal erstmal nicht selbstverständlich. Harte Männer, sexy Frauen – da gibt es festgefahrene Klischees. Und konservative Werte.
Braun: Wir passen nicht in diese Klischees. Wir lieben es, anders zu sein. Ich finde, zu diesem Thema passt ganz gut der Inhalt unseres Songs "Not the End of the Road". Dieses Lied betrifft uns alle, ob queer oder nicht-queer, ob Männlein oder Weiblein, ob schwarz oder weiß. Alle Menschen hatten in den letzten zwei Jahren massive Einschnitte, die teils zu Depressionen oder Existenzängsten geführt haben. Es gab Katastrophen. Wir vermitteln die Botschaft: Gib dich nicht auf. Das gilt für alle Menschen – gleichberechtigt.
"Das Publikum ist toleranter als sein Ruf – ich hoffe, auch bei queeren Themen."
Johannes Braun
Queer oder nicht queer. Männlein oder Weiblein. Ist der Heavy Metal tatsächlich reif für einen Genderfluid?
Braun: Eine sehr gute Frage. Da wären wir wieder bei Subgenres. Über die ich größtenteils wenig sagen kann. Was machen wir eigentlich? Ich antworte da immer gerne: Rockmusik. Und in der Rockmusik haben wir, würde ich sagen, ein offenes Publikum. Nehmen wir das Summer Breeze Open Air in Dinkelsbühl. Da regiert die härtere Gangart. Da sind wir einer der poppigen Acts. Da denkt man, die Leute sagen: Was soll der Scheiß? Aber wir wurden keineswegs in der Luft zerrissen. Das Publikum ist toleranter als sein Ruf – ich hoffe, auch bei queeren Themen.
Spannen wir den Bogen noch weiter: von der Rockmusik zur Unterhaltungsbranche. Wer dort erfolgreich sein will, sollte auffallen, oder möglichst glattgebügelt sein.
Braun: Klar kann man provozieren wie Rammstein. Wir wollen vielmehr ein gutes Gefühl, eine gute Zeit vermitteln.
"Everybody is longig for a good life" – Sie besingen ein gutes Leben in einer guten Welt. Die Realität hat Corona und Krieg im Angebot. Wie sähe denn Ihre ideale Welt aus?
Braun: Das ist ein Charity-Song zu Gunsten des Fördervereins für krebskranke Kinder in Tübingen. Schon lange ein Thema für uns. Doch der Song besagt viel mehr: Jeder Mensch hat ein Recht auf ein gutes Leben. Ein gutes Leben bedeutet auch, keinen anderen Menschen auszuschließen. Und Frieden. In einer idealen Welt gibt es keinen Krieg, gehen Menschen harmonisch miteinander um. Alle.
Konzert: Am 26. Dezember, 19.30 Uhr, spielen Kissin' Dynamite in der Geiselwinder Music Hall; Einlass erfolgt ab 18.30 Uhr. Karten gibt es unter www.vivenu.com und www.eventim.de
Anfahrt: Über die A 3 Würzburg-Nürnberg, Ausfahrt Geiselwind, an der Ausfahrt links und nach 400 Meter rechts in die Scheinfelder Straße.