Weihnachten, Ostern und Pfingsten - das sind die drei großen christlichen Feste. Es fällt mir leicht, die beiden ersten Feste meinen Schülern in der Grundschule zu erklären. Beim dritten fällt mir die Erklärung schon schwerer. Denn Pfingsten ist das einzige Fest, das nichts mit Schokolade zu tun hat.
Trotzdem habe ich meinen Schülern die Pfingstgeschichte nicht vorenthalten. Ich habe von den Jüngern in Jerusalem erzählt, die traurig und mutlos waren, die plötzlich von der Kraft des Heiligen Geistes erfasst wurden und dann wunderbare Dinge tun konnten, die sie nie zuvor gelernt hatten.
Die beste Erklärung für das Pfingstwunder: Die eigenen Grenzen überschreiten
Ein Schüler der 3. Klasse dachte einen Moment nach und sagte dann: "Jetzt habe ich verstanden: Pfingsten ist, wenn du mehr kannst, als du kannst." Ich habe noch nie eine so gute Erklärung des Pfingstwunders gehört wie aus dem Munde dieses Neunjährigen. Pfingsten heißt, die eigenen Grenzen überschreiten.
Auch in meiner Gemeinde und in vielen anderen Gemeinden erlebe ich Menschen, die mehr können, als sie gelernt haben. Sie bekennen ihren Glauben ohne theologische Formeln. Sie reden mit Gott wie mit einem guten Freund. Sie befragen ihn, wenn sie vor einer wichtigen Entscheidung stehen. Sie beten für Kranke in der Hoffnung, dass es besser mit ihnen wird. Sie singen neue Lieder und auch die alten, aber in einem neuen Geist. Sie singen, tanzen und klatschen - manchmal ohne Rücksicht auf die Liturgie.
Die Kirche hat Ereignisse dogmatisiert, Wunder der Gegenwart angezweifelt
Die offizielle Kirche hat sich mit solchen Menschen immer schwer getan. Sie hat einerseits Ereignisse aus der Vergangenheit dogmatisiert und andererseits die Wunder der Gegenwart angezweifelt. Sie hat die Motivation ihrer Gläubigen immer wieder durch das Festhalten an überholten Traditionen erstickt.
"Ich wünsche mir eine Kirche, die sich täglich neu öffnet für die Kraft des Heiligen Geistes."
Pfarrer Niko Natzschka
Ich wünsche mir eine Kirche, die sich täglich neu öffnet für die Kraft des Heiligen Geistes. Ich wünsche mir Gläubige, die begeistert sind und begeistern können. Pfingsten im Jahr 2022 bedeutet für mich nicht, die Asche zu hüten, sondern eine Flamme am Leben zu erhalten. Damit meine ich vor allem das Licht des Friedens und nicht das Feuer des Streites.
Was mich dabei leitet, ist der Wochenspruch zum Pfingstsonntag: "Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth" (Sacharja 4,6). Dieser Spruch lässt mich zugleich an den furchtbaren Krieg in der Ukraine denken.
Deutsche Waffen werden keinen Frieden schaffen - doch Despoten darf man nicht gewähren lassen
Möglicherweise wird Wladimir Putin dieses Land unterwerfen. Aber es wird ihm nicht gelingen, die Herzen der Ukrainer zu gewinnen. Auch deutsche Waffen werden letztlich keinen Frieden schaffen, weil sich ein Feuer nicht mit Benzin löschen lässt. "Es soll nicht durch Heer oder Kraft geschehen", spricht der Herr, "sondern durch meinen Geist", den Geist der Versöhnung und des Friedens.

Es ist also falsch, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Aber genauso falsch wäre es diesem Fall, es nicht zu tun. Denn Despoten darf man nicht gewähren lassen. Das wissen wir Deutschen aus eigener Erfahrung. Zudem hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung. Unsere Regierung befindet sich also in einem Dilemma: Sie muss zwischen zwei Übeln das geringere wählen.
In einer modernen Welt lassen sich Konflikte nur noch gewaltfrei lösen
Wir Deutschen sind in der glücklichen Lage, dass wir seit mehr als 77 Jahren im Frieden leben. Das ist alles andere als selbstverständlich. Darum versuche ich, meinen Konfirmanden klarzumachen, dass sich Konflikte in einer modernen Welt nur noch gewaltfrei lösen lassen. Neulich habe ich ihnen einen Film gezeigt – über Unterfranken im Dritten Reich und die Zerstörung unserer Heimatstadt Würzburg am 16. März 1945.
Dann habe ich mit ihnen das zeitlos schöne und zugleich traurige Lied gesungen "Sag mir, wo die Blumen sind". Text und Melodie stammen von dem amerikanischen Songwriter Pete Seeger, haben ihre Wurzeln aber in der Ukraine. Durch die Schauspielerin und Sängerin Marlene Dietrich wurde dieses Lied weltberühmt. Der Inhalt ist schnell erzählt: Mädchen pflücken Blumen. Männer heiraten Mädchen. Männer ziehen in den Krieg. Sie sterben und werden begraben. Und auf ihren Gräbern wachsen Blumen, die der Sommerwind bewegt.
Beim nächsten Mal hatten meine Konfirmanden zwei verrückte Ideen: Sie wollten den Film noch einmal sehen und das Lied noch einmal singen, aber beides verkehrt herum. Nach einigem Zögern ließ ich mich auf das Experiment ein. Wir sahen noch einmal die brennende Stadt Würzburg. Aber diesmal hatten die englischen Bomber den Rückwärtsgang eingelegt. Sie saugten den Feuerregen in sich auf und flogen wieder nach Hause. Dann sahen wir SS-Männer ohne Uniform, die den Brand in einer Synagoge löschten und die Thorarollen wieder zurück in ihren Schrank stellten.
"Männer steigen aus ihren Gräbern, sie ziehen rückwärts aus dem Krieg nach Hause. Sie schließen ihre Mädchen in die Arme, die vor Freude Blumen pflanzen."
Der Liedtext von "Sag mir, wo die Blumen sind" rückwärts
Schließlich haben wir noch einmal das Lied von Marlene Dietrich gesungen. Diesmal ging der Text so: Der Sommerwind bewegt die Blumen. Männer steigen aus ihren Gräbern, sie ziehen rückwärts aus dem Krieg nach Hause. Sie schließen ihre Mädchen in die Arme, die vor Freude Blumen pflanzen.
Diesen Sommerwind haben wir in Deutschland schon einmal gespürt, den "Wind of Change" des Jahres 1989. Es war ein echtes Pfingstwunder, als ungezählte Menschen auf den Straßen von Leipzig, Dresden und Berlin friedlich demonstrierten, als ein schusseliger Parteisekretär durch einen Versprecher die Mauer zum Einsturz brachte, als aus zwei deutschen Staaten wieder ein "einig Vaterland" wurde.
Ende der sinnlosen Konfrontation zwischen Ost und West - haben wir uns getäuscht?
Damals dachten wir: "Jetzt ist der Kalte Krieg, die völlig sinnlose Konfrontation zwischen Ost und West, endlich zu Ende. Jetzt können alle Völker Europas in Frieden und Freiheit leben. Jetzt werden auch die Russen unsere Freunde." Sollten wir uns getäuscht haben?
Der AutorNiko Natzschka ist seit 24 Jahren Pfarrer der Martin-Luther-Kirche im Würzburger Stadtteil Frauenland. Natzschka wurde in Berlin geboren und ist in Bad Kissingen und Bamberg aufgewachsen. Am dortigen Clavius-Gymnasium machte er Abitur. Nach dem Theologie-Studium in Erlangen und Tübingen war der evangelische Geistliche zunächst Vikar in Leutershausen bei Ansbach, dann Pfarrer in Memmingen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Sozialprojekte in Mexiko, Äthiopien und Indien. Niko Natzschka ist verheiratet.